Wo stehen wir?
Rund 30 % der Frauen und 20 % der Männer erfahren im Laufe ihres Lebens mindestens ein traumatisches Ereignis (Maercker et al., 2008). Wer denkt, dass diese Zahlen nicht aus westlichen Ländern stammen können, irrt sich. Sie stammen aus dem deutschsprachigen Raum, was impliziert, dass im Schnitt jede vierte Person Gefahr läuft, eine mögliche Traumafolgestörung zu entwickeln (Maercker et al., 2008). Die Folgen reichen von keiner gesundheitlichen Beeinträchtigung bis hin zu schwer beeinträchtigenden Erkrankungen wie die posttraumatische Belastungsstörung, dissoziative Störungen oder Persönlichkeitsstörungen (McLaughlin & Lambert, 2017). In anderen Kontexten wurden ähnliche Zahlen berichtet. So beobachteten Stoltenborgh et al. (2015) in einer Meta-Analyse Lebenszeitprävalenzen von 12.7 % für sexuellen, 22.6 % für physischen und 36.6% für emotionalen Missbrauch. Zudem wurden in rund 16.3 % physische und 18.4 % emotionale Vernachlässigung festgestellt (Stoltenborgh et al., 2015).
Es muss dabei unterschieden werden, um welche Art des Traumas es sich handelt (sexueller, physischer oder emotionaler Missbrauch, Misshandlung oder Vernachlässigung), wobei die Anzahl Trauma-Arten und die Schwere der Kindesmisshandlung oder des Kindesmissbrauchs Aufschluss über die Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) geben (Schalinski et al., 2016). Im gleichen Artikel von Schalinski et al., (2016) wurde vor allem der Einfluss von Trauma-Art und Timing der traumatischen Erfahrungen auf die spätere Entwicklung einer PTBS, dissoziativen Störung und Depression untersucht. So konnte beobachtet werden, dass emotionale und physische Vernachlässigung eher mit einer PTBS sowie mit einer dissoziativen Störung einhergingen, während die emotionale Vernachlässigung mit vermehrten Depressionen assoziiert war (Schalinski et al., 2016).
In Ergänzung dazu ist auch der Kontext, in dem sich das Trauma ereignet (soziale Ebene), die individuelle Vulnerabilität bzw. Resilienz (biologische Ebene) und die nachfolgende psychische Verarbeitung (psychische Ebene) entscheidend, wie sich die psychische Gesundheit der Betroffenen entwickelt. Dieser biopsychosoziale Ansatz (siehe Abbildung) ist im Kontext von Traumafolgestörungen zentral – insbesondere das integrierte biopsychosoziale Modell der Erholung nach traumatischem Stress (Integrated Biopsychosocial Model for Posttraumatic Stress Recovery) erweitert bestehende fundamentale Konzepte zum Beispiel um inter- und intrapersonelle Coping-Strategien (Calhoun et al., 2022). Dabei weisen Betroffene unterschiedliche Suszeptibilitätsfaktoren ("Empfindlichkeits-Faktoren") auf (Elwood et al., 2009; McKeever & Huff, 2003). Es wird vor allem die Interaktion zwischen Veranlagung und Triggerfaktoren (z. B. Trauma) als Ursache für eine psychische Stressreaktion, die schliesslich psychische Störungen auslösen kann, diskutiert (Calhoun et al., 2022).
Ein besonders hohes Risiko haben, nebst Betroffenen wie beispielsweise Rettungs- und Einsatzkräfte (Petereit-Haack et al., 2020), vor allem Flüchtlinge und Asylsuchende, deren Fluchtumstände die Betroffenen auf verschiedenste Arten traumatisieren können (Trauer, «ambiguos loss», Krieg, Schlepper etc.). Dabei schwanken die Prävalenzen zwischen 29 % bis 37 % für das Auftreten der posttraumatischen Belastungsstörung (Henkelmann et al., 2020). Vor dem Hintergrund der andauernden Konflikte in verschiedenen Regionen der Welt (Ukraine, Syrien, Somalia, Südsudan etc.) und der daraus resultierenden Flüchtlingsströme, wird auch das Schweizer Gesundheitssystem früher oder später mit diesen traumatisierten Menschen zu tun haben. Dies erfordert nicht nur materielle Ressourcen, sondern stellt auch Therapeut*innen, Pflegefachkräfte und sonstige beteiligte Fachpersonen vor Herausforderungen. Da wären einerseits sprachliche Barrieren, Probleme des Zugangs zu lokalen Gesundheitsinstitutionen und inhaltliche Unterschiede in Krankheitskonzepten zwischen Geflüchteten und Schweizer Therapeut*innen. Momentan findet in diesem Zusammenhang ein Wandel statt – es werden Bemühungen unternommen, um diese kulturellen Gräben zu überbrücken und die gesundheitliche Versorgung von Geflüchteten kultursensitiv zu gestalten. Dazu gehören spezielle Therapiekonzepte (Akhtar et al., 2021), aber auch neu ausgearbeitete «Conceptual Frameworks», wie es beispielsweise Eva Heim in diversen Publikationen eingeführt hat (Heim et al., 2020; Heim & Kohrt, 2019; Heim, Mewes, et al., 2021; Heim, Ramia, et al., 2021).

Begegnungen im medizinischen Kontext zwischen Patient*innen und ärztlichem Personal waren früher von einer Asymmetrie geprägt. Häufig entschieden die Ärzt*innen über die Therapie, ohne mit den Patient*innen darüber zu diskutieren. Insbesondere für vulnerable Bevölkerungsgruppen, zu denen beispielsweise Kinder oder Geflüchtet und Asylsuchende gehören, ist die Beziehung zwischen Ärzt*innen und Patient*innen essenziell (Dorr Goold & Lipkin, 1999). Aus diesem Grund befindet sich diese Praxis im Wandel. So erlernen bereits junge Schweizer Medizinstudierende das Prinzip der partizipatorischen Entscheidungsfindung, bei welcher die Patient*innen den Ärzt*innen auf Augenhöhe begegnen und unter Berücksichtigung möglichst vieler Informationen die Entscheidungen mittragen können. Doch woher stammen die Informationen? Primäre Quelle für die meisten Patient*innen ist in der heutigen Zeit das Internet (McMullan, 2006). Dies beeinflusst nicht nur die Beziehung zwischen Therapeut*in und Patient*in, sondern die Patient*innen werden auch von einer Flut an Informationen überrollt, sodass es schwierig ist, den Überblick zu behalten und aus der Fülle an Informationen die relevanten bzw. korrekten Fakten zu finden. Ein weiteres Problem ist, dass die neusten Erkenntnisse aus der Forschung (meist) zuerst in englischsprachigen Fachzeitschriften veröffentlicht werden und häufig nur akademischem Personal kostenfrei zugänglich sind. Dies hat zur Konsequenz, dass die Informationen erst als Letztes zu denjenigen gelangen, die in diesem ganzen Prozess am wichtigsten sind – nämlich die Betroffenen und deren Angehörige, was in folgender Darstellung aufgezeigt wird.
Referenzen
Akhtar, A., Engels, M., Bawaneh, A., Bird, M., Bryant, R., Cuijpers, P., Hansen, P., Al-Hayek, H., Ilkkursun, Z., Kurt, G., Sijbrandij, M., Underhill, J., Acarturk, C., & and On behalf of the STRENGTHS Consortium. (2021). Cultural Adaptation of a Low-Intensity Group Psychological Intervention for Syrian Refugees [Article]. Intervention, 19(1), 48-57. https://doi.org/10.4103/intv.Intv_38_20
Calhoun, C. D., Stone, K. J., Cobb, A. R., Patterson, M. W., Danielson, C. K., & Bendezú, J. J. (2022). The Role of Social Support in Coping with Psychological Trauma: An Integrated Biopsychosocial Model for Posttraumatic Stress Recovery. Psychiatric Quarterly. https://doi.org/10.1007/s11126-022-10003-w
Dorr Goold, S., & Lipkin, M., Jr. (1999). The doctor-patient relationship: challenges, opportunities, and strategies. J Gen Intern Med, 14 Suppl 1(Suppl 1), S26-33. https://doi.org/10.1046/j.1525-1497.1999.00267.x
Elwood, L. S., Hahn, K. S., Olatunji, B. O., & Williams, N. L. (2009). Cognitive vulnerabilities to the development of PTSD: a review of four vulnerabilities and the proposal of an integrative vulnerability model. Clin Psychol Rev, 29(1), 87-100. https://doi.org/10.1016/j.cpr.2008.10.002
Heim, E., Burchert, S., Shala, M., Kaufmann, M., Cerga Pashoja, A., Morina, N., Schaub, M., Knaevelsrud, C., & Maercker, A. (2020). Effect of Cultural Adaptation of a Smartphone-Based Self-Help Programme on Its Acceptability and Efficacy: Study Protocol for a Randomized Controlled Trial. https://doi.org/10.23668/psycharchives.3152
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Heim, E., Mewes, R., Abi Ramia, J., Glaesmer, H., Hall, B., Harper Shehadeh, M., Ünlü, B., Kananian, S., Kohrt, B. A., Lechner-Meichsner, F., Lotzin, A., Moro, M. R., Radjack, R., Salamanca-Sanabria, A., Singla, D. R., Starck, A., Sturm, G., Tol, W., Weise, C., & Knaevelsrud, C. (2021). Reporting Cultural Adaptation in Psychological Trials – The RECAPT criteria. Clinical Psychology in Europe, 3, 1-25. https://doi.org/10.32872/cpe.6351
Heim, E., Ramia, J. A., Hana, R. A., Burchert, S., Carswell, K., Cornelisz, I., Cuijpers, P., El Chammay, R., Noun, P., van Klaveren, C., van Ommeren, M., Zoghbi, E., & van't Hof, E. (2021). Step-by-step: Feasibility randomised controlled trial of a mobile-based intervention for depression among populations affected by adversity in Lebanon. Internet Interventions, 24, 100380. https://doi.org/https://doi.org/10.1016/j.invent.2021.100380
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Stoltenborgh, M., Bakermans-Kranenburg, M. J., Alink, L. R. A., & van IJzendoorn, M. H. (2015). The Prevalence of Child Maltreatment across the Globe: Review of a Series of Meta-Analyses. Child Abuse Review, 24(1), 37-50. https://doi.org/https://doi.org/10.1002/car.2353
