Anhaltende Trauerstörung bei arabischen & afrikanischen Flüchtlingen
Viele Flüchtlinge aus dem arabischen und afrikanischen Raum waren in den letzten Jahrzehnten schweren traumatischen Ereignissen und Konflikten ausgesetzt. Plötzlich sahen sie sich mit den materiellen und persönlichen Verlusten von Familienmitliedern konfrontiert - dies hinterlässt Spuren. Doch nicht nur der Blick zurück, sondern auch die Integration in eine neue Kultur und das Leben in einem neuen Land stellen Hürden für Flüchtlinge dar. Nicht selten kommt es dabei zu psychischen Erkrankungen. Der Verlust eines geliebten Menschen ist erschütternd, wird aber von den meisten Personen (80-90%, Prigerson 2004) im Laufe der Zeit akzeptiert. Nichtsdestotrotz kann es zu einer "pathologischen" Trauer kommen, bei der die Trauerreaktion das normale Mass übersteigt. Da die Trauer höchst individuell und vor allem kulturell sehr unterschiedlich ist, ist es schwierig eine pathologische Trauerreaktion zu vereinheitlichen.
Mit der anhaltenden Trauerstörung wurde im ICD-11 eine klinische Diagnose aufgeführt (Killikelly et al. 2013, Maercker et al. 2018). Dabei werden sowohl Symptome als auch kulturelle Aspekte miteinbezogen. Merkmale der anhaltendenen Trauerstörung nach ICD-11 sind: (WHO 2018)
A) Ereigniskriterium: Tod einer nahestehenden Person vor mind. 6 Monaten
B) mind. 1 Symptom: a) starke(s) anhanltende(s) Verlangen und Sehnsucht nach der verstorbenen Person, b) starkes und anhaltendes Verhaftetsein mit der verstorbenen Person oder den Todesumständen
C) einige Symptome: intensiver emotionaler Schmerz (z.B. Traurigkeit, Schuldgefühle, Wut, Vermeidung, Vorwürfe, Schwierigkeiten, den Verlust zu akzeptieren, beeinträchtigtes Selbstkonzept, emotionale Taubheit etc.)
D) Zeit- und Beeinträchtigungskriterien: Die anhaltende Trauerrekation ist ausgeprägter, als gesellschaftliche oder kulturelle Normen dies erwarten lassen und führt zu deutlichen Funktionsbeeinträchtigungen.
Die unterschiedlichen kulturellen Vorstellung von Trauerreaktionen stellen westliche Kulturen und deren Diagnosesystem vor dem Hintergrund der Flüchtlingswellen der letzten Jahrzehnte vor grosse Herausforderungen. So wird in Japan die Trauer eher als ganzheitlicher Prozess verstanden, der sich "auf Geist, Gefühle und Körper auswirkt", während in Bali der öffentliche Ausdruck von Trauer zu jeder Zeit pathologisch ist (Rosenblatt 2008).
Insbesondere Flüchtlinge zeigen eine hohe Prävalenz der anhaltenden Trauerstörung im Vergleich zu Menschen in westlichen Ländern (Bryant 2019, 2021). Hinzu kommt, dass geflüchtete Menschen seltener Zugang zu psychologischer Unterstützung erhalten oder diese wahrnehmen (Fuhr 2020, Kirmayer 2011, Maconick 2020). In der Literatur finden sich zudem kulturspezifische Symptome, die nicht mit den Diagnosekriterien zur anhaltenden Trauerstörung nach ICD-11 abgedeckt werden. Dies lässt erahnen, dass sowohl die Diagnosestellung, als auch die Therapie der anhaltenden Trauerstörung kulturell adaptiert erfolgen sollen.
Um die kulturellen Aspekte dieser Erkrankung besser zu verstehen, untersuchten Lechner-Mechsner & Comtesse (2022) in ihrer Studie die Gedanken von arabischen und afrikanischen (Sub-Sahara) Flüchtlinge über die Ursachen und die Heilung der anhaltenden Trauerstörung. Die Flüchtlingen stammten dabei aus Ländern wie Syrien (71.5%), Yemen, Irak, Ägypten, Kamerum und weitere). Die Gründe der anhaltenden Trauerstörung wurden in vier Gruppen eingeteilt:
Zwischenmenschliche Gründe (91.3%): Themen die dabei aufkamen, waren die Verbundenheit zu der verstorbenen Person, Verwandschaftsgrad, Mangel an sozialer Unterstützung und materielle Abhängigkeit.
Intrapersonelle Gründe (69.6%): Genannt wurden vor allem eine Vulnerabilität (Verletzlichkeit), Schuld, vorexistierende psychische Probleme und der religiöse Glauben.
Todesumstände (65.2%): Hier wurden vor allem eine gewaltsame, plötzliche Todesart, die Unfähigkeit Rituale zu vollziehen, das Bewusstsein, dass der/die Angehörige allein gestorben ist und multiple Todesfälle genannt.
Trennung von zu Hause und Angehörigen (30.4%)
Eine detaillierte Zusammenstellung der genannten Gründe für die anhaltende Trauerstörung finden sich in Tabelle 3.

Im Vergleich zu afrikanischen Flüchtlingen betonten arabische Flüchtlinge mehr den plötzlich, gewaltsamen Tod als Ursache und den Glauben an Gott als Heilung. Die Ansichten der Flüchtlinge decken sich dabei weitgehend mit der wissenschaftlichen Literatur. Im Vergleich zu früheren Studien wurden allerdings weniger übernatürliche Phänomene als Ursache genannt, was so interpretiert wird, dass sich die Flüchtlinge schon teilweise an die westliche Kultur angepasst haben.
Bei den Annahmen über die Heilung zeigte sich ein ähnliches Bild. Am häufigsten genannt wurden zwischenmenschliche/professionelle Unterstützung und individuelles Verhalten (Fokus auf das Hier und Jetzt, Erinnerungen an die verstorbene Person etc.). Die Details, sowie die Unterschiede zwischen arabischen und afrikanischen Flüchtlingen finden sich in Tabelle 4.

Dabei wurden soziale Unterstützung und Religion als Erst-Linien-Hilfe genannt, wobei deutlich war, dass die Teilnehmenden gegenüber professioneller Hilfe tendenziell reserviert waren. Dies könnte vor allem daran liegen, dass die Flüchtlinge noch nicht mit dem lokalen Gesundheitssystem vertraut waren. Eine weitere Hürde zur Suche professioneller Hilfe sind die vermutete Stigmatisierung und das Unverständnis von westlichen Spezialisten für die eigene Kultur. Dies hat Implikationen für den Umgang mit Flüchtlingen mit einer anhaltenden Trauerstörung:
Überwindung von Hürden für die Suche nach professioneller Hilfe
Etablierung eines gemeinsamen Erklärungsmodells der anhaltenden Trauerstörung
Anpassung der psychologischen Intervention
Integration von Ritualen in die Therapie
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Psychologen, Psychiater und Sozialarbeiter die Todesumstände und das kulturelle Verständnis der PatientInnen explorieren sollten. Dabei sollte aber nicht zu sehr auf die Unterschiede zur eigenen Kultur eingegangen werden, da die Flüchtlinge hinsichtlich der Gründe/Therapien ähnliche Vorstellungen haben wie Personen in der westlichen Kultur.