"Chaos im Kopf": Ein Erklärungsmodell der multiplen Persönlichkeit
Vielleicht habt Ihr schon Mal vom Schmetterlingseffekt gehört oder den gleichnamigen Hollywood-Film (engl. Butterfly Effect) gesehen und Euch gefragt, welches Prinzip dahinter steckt. Was als reine mathematische Theorie begann, hatte vor allem gegen Ende des letzten Jahrhunderts Einzug in die Psychologie gehalten. Dies, um eine alternative Erklärung für das Auftreten verschiedenster psychischer Erkrankungen zu liefern, was eine Erweiterung der klassischen naturwissenschaftlichen Modelle ist. In der Folge soll die sogenannte "Chaostheorie" erläutert sowie ihre Anwendung auf die dissoziative Identitätsstörung (DIS, Syn: multiple Persönlichkeitsstörung) aufgezeigt werden.
Chaostheorie
Unter der Chaostheorie versteht man eine Theorie, welche besagt, dass die Natur statt eines linearen Systems (vereinfacht: eine Ursache bedingt eine Konsequenz) ein offenes System ist. Sie versucht, zu erklären, wie "Systeme [wie z.B. die menschliche Psyche] ihre eigenen Strukturen und Stabilitäten erzeugen können, die [zwar] auf der Interaktion zwischen Ursachen und Wirkungen basieren, aber nicht dem Ursache-Wirkungsprinzip folgen." (Tobler, 2001) Dabei gilt das Prinzip des Schmetterlingseffektes - schon kleinste Veränderungen der Ausgangsbedingungen haben gravierende Einflüsse auf den Endzustand der menschlichen Psyche - sowie die Attraktorentheorie (siehe weiter unten).
Folge: ähnliche Ursachen können unterschiedliche Konsequenzen haben und eine Ursache kann trotz ähnlichen Bedingungen zu unterschiedlichen Resultaten führen.
Was bedeutet das nun? Das heisst nichts anderes, als dass wir entgegen der klassischen verhaltensbasierten Theorien (welche z.T. auf Lernprozessen beruhen) die Zukunft bzw. zukünftiges Verhalten nicht voraussagen können, da die Wirkung einer Handlung von grösserer Unsicherheit begleitet ist. Ein wichtiger Begriff als Teil eines möglichen Erklärungsmodells der menschlichen Psyche ist dabei der sog. "Attraktor" (im Sinne von Anziehung), der als "Zielzustand des Systems [z.B. der menschlichen Psyche]" zu verstehen ist. Das heisst, dass sich unser System [menschliche Psyche] in Richtung dieses Zustands entwickelt - man könnte sagen, dass es von diesem Zielzustand wie ein Magnet "angezogen" wird. Das klingt bis jetzt so, als wäre dieser Zielzustand eindeutig und klar vorhersagbar - dem ist aber nicht so.
Eine Form von Attraktor ist der "seltsame" oder auch chaotische Attraktor, welcher unregelmässig ist und dessen Erreichen von unzähligen Stressfaktoren (wie z.B. ein traumatisches Erlebnis) an wichtigen Weggabelungen (=Bifurkationen) beeinflusst wird. Ihr könnt euch das so vorstellen, dass die menschliche Psyche (=System) wie eine Feder im Wind ist - sie kann sehr leicht von einer Seite (Zielzustand/Attraktor 1) zur anderen (Zielzustand/Attraktor 2) bewegt werden. Es hängt an einem seidenen Faden, ob sich die Feder zum einen oder anderen Zielzustand bewegt und schon kleine Windböhen können die Feder von einem Zustand in den anderen bewegen.

Anwendung der Chaostheorie auf die Psychologie (nach Ayers, 1997)
Die Chaostheorie kann ausgehend von den folgenden Prinzipien auch auf die Psychologie/Psychiatrie übertragen werden:
Der Schmetterlingseffekt: Bereits kleine Veränderungen der Anfangsbedingungen (z.B. in der Kindheit, Trigger) können grosse, unvorhersehbare Konsequenzen haben. Bsp. ein traumatisches Kindheitsereignis kann unterschiedliche Auswirkungen auf den erwachsenen Menschen haben. Es kann im Kindheitsalter jedoch nicht vorausgesagt werden, welche Auswirkungen im Erwachsenenleben dann spürbar werden.
Die Attraktortheorie: Unsere menschliche Psyche kann sich in Richtungen unterschiedlicher Zielzustände entwickeln, wobei, aufgrund der Komplexität des Gehirns, Unsicherheit herrscht, welcher Zielzustand dann wirklich eintritt. Bsp. Damit lässt sich eine Theorie zum Bewusstsein entwickeln: Auf dem Weg zur Entwicklung eines Bewusstseins treten unzählige Weggabelungen auf, die den Übergang von einem Zielzustand (z.B. Persönlichkeitsanteil 1) in den anderen (z.B. Persönlichkeitsanteil 2) begünstigen, wobei diese Übergänge sehr "sensibel" und anfällig für Störungen (z.B. durch traumatische Ereignisse, Trigger) sind.
Der Zusammenhang der Chaostheorie und der Psychologie wurde Ende des 20. Jahrhunderts ausgiebig erforscht, wobei die meisten Studien zu Neurophysiologie/Neurowissenschaften (z.B. Detektion von abnormen Hirnströmen) durchgeführt wurden. Im Bereich der klinischen Psychologie wurde viel exploriert, aber vieles wird nachwievor lediglich vermutet.
Anwendung der Chaostheorie auf die dissoziative Identitätsstörung (DIS)
Die oben genannten Konzepte des Schmetterlingseffektes und der Attraktortheorie liefern auch bezüglich der DIS eine mögliche Erklärung:
Bei der DIS handelt es sich um eine Trauma-bedingte Erkrankung, bei der es zur Aufspaltung der Persönlichkeit in Persönlichkeitsanteile (sog. dissoziative Identitäten) kommt, die unabhängig voneinander Kontrolle über Denken, Fühlen, Erinnern und Handeln übernehmen können.
Wenn man nun die unterschiedlichen Persönlichkeitsanteile als mögliche Zielzustände/Attraktoren, die Wechsel zwischen den Persönlichkeitsanteilen (=komplexe adaptive Systeme; Ego-States) als Weggabelung und alltägliche Trigger (=Quellen für einen Wechsel wie z.B. ein bestimmter Geruch) als Störeinflüsse betrachtet, dann hat die Chaostheorie als Erklärungsmodell durchaus ihre Berechtigung. Dabei zielt jeder Persönlichkeitsanteil auf seinen eigenen Zielzustand ab, was zu einer internen Konkurrenz innerhalb dieses "Ökosystems um die internen Output-Kanälen" führt (Sel, 1997). Die komplexen neuronalen Netzwerke sind dabei besonders beliebt, um solche dissoziativen Zustände zu erklären, wobei die Persönlichkeitsanteile nicht integriert sind, was diese Dissoziation (Syn: Abspaltung) begünstigt (mehr dazu in Bob 2003, Sel 1997).

Zumindest zu Beginn der Erkrankung sind die Wechsel zwischen den verschiedenen Persönlichkeitsanteilen schwer vorhersagbar und sprunghaft, was ein weiteres Indiz dafür sein kann, dass das System [menschliche Psyche] chaotischer Natur ist. Dies zeigt sich auch auf biologischer Ebene, indem es entsprechende Veränderungen der Hirnströme (z.T. mit Epilepsie-ähnlichem Muster) in unterschiedlichen Persönlichkeitsanteilen (Tirsch 2004, Faber 1996, Groethuysen 1957, Stevens 1959) und veränderter elektrischer Hautleitfähigkeit (Putnam 1992, Mangina 1996) führt.
Funktion der Dissoziation aus Sicht der Chaostheorie (nach Sel, 1997)
Systeme im Bereich zwischen stabiler (nicht-anpassungsfähig) und chaotischer (=anpassungsfähig) Systeme werden als sinnvoll/ideal für die Entwicklung eines Systems empfunden (Hübler 1993, Kauffmann 1999). Die Aufspaltung in die Persönlichkeitsanteile sind somit ein Produkt der Evolution und Co-Evolution von Persönlichkeitsanteilen (=Ego-States), was den Schluss zulässt, dass DIS-Patienten als Ökosystem von komplexen Systemen verstanden werden können. Interessant dabei ist Folgendes:
Sel (1997) nimmt an, dass sich Ego-States, die in der traumatischen Phase besonders gut adaptiert waren (und damit die Kontrolle hatten), in Zeit des "Friedens" unangepasst sind und daher die Kontrolle verlieren. Besonders in rasch wechselnden Kontexten führt das dazu, dass dissoziative Identitäten anpassungsfähiger sind, weshalb DIS-Symptome auch erst nach dem Ändern des Kontextes (Übergang in Zeit ohne traumatische Erlebnisse) auftreten können.
Zugegeben: Es ist und bleibt eine Theorie. Trotzdem bildet sie eine mögliche (oder ergänzende) Erklärung für das initial schwer nachvollziebare Konzept der Dissoziation. Dies konnte wie oben erwähnt auch biologisch bis zu einem gewissen Grad bestätigt werden. Es herrscht also Chaos im Kopf dieser Patient:innen - das nicht nur im theoretischen Sinne, sondern ganz praktisch (siehe unser Blog "Be Many!").
Referenzen (und weiterführende Literatur)
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