Dissoziative Störungen – ein wissenschaftlicher Diskurs ist nötig
Im Internationalen Klassifikationssystem (ICD-11) werden dissoziative Störung bezeichnet als «eine unwillkürliche Unterbrechung oder Diskontinuität der normalen Integration eines oder mehrerer der folgenden Bereiche: Identität, Empfindungen, Wahrnehmungen, Affekte, Gedanken, Erinnerungen, Kontrolle über Körperbewegungen oder Verhalten» (World Health Organization [WHO], 2023). Dazu zählen unter anderem die dissoziative Amnesie, Trance-Störung, Bessessenheitsstörung, (partielle) dissoziative Identitätsstörung, Depersonalisation-Derealisationsstörung und die dissoziative neurologische Symptom Störung. Dissoziative Störungen gehören seit ihrer ersten Beschreibung im 19. Jahrhundert zu den meist diskutierten psychischen Störungen in der Psychiatrie (Loewenstein, 2018). Insbesondere die dissoziative Identitätsstörung (DIS) ist dabei immer wieder Gegenstand von Spekulationen und verzerrten Darstellungen in den Medien. So tragen Netflix-Klassiker wie z. B. «Split» nicht dazu bei, ein objektives, sachliches und wissenschaftlich fundiertes Bild der DIS in der Öffentlichkeit zu schaffen.
Funktion und Kritik der Dissoziation
Gemäss dem Trauma Modell ist die Dissoziation ein protektiver Mechanismus, der uns Menschen in Zeiten nicht zu ertragender traumatischer oder emotionaler Erlebnisse schützt (Dalenberg et al., 2012). Dabei reicht das Spektrum von alltäglichen, nicht-pathologischen Phänomenen bis hin zu schwerwiegenden Erkrankungen wie der dissoziativen Identitätsstörung (Loewenstein, 2018). Kritische Stimmen entgegnen, dass die Dissoziation «ein Zustand ist, der bei hochgradig hypnotisierbaren, 'phantasie anfälligen', 'beeinflussbaren' Patienten - viele mit Borderline Persönlichkeitsstörung (BPD) – vorkommt und von Klinikern, die an "verdrängte Erinnerungen" und "multiple Persönlichkeiten" glauben, diagnostiziert wird.» (Brand et al., 2014; Paris, 2012; Simeon & Loewenstein, 2009; Löwenstein, 2018, S. 230) Aufgrund dieser Argumentation wird ersichtlich, dass eine wissenschaftliche Herangehensweise in der Erfassung des Phänomens «Dissoziation» unerlässlich ist.
Auszug aus dem wissenschaftlicher Diskurs
Heute finden sich zahlreiche Tools zur Identifikation und Diagnostik dissoziativer Störungen wie beispielsweise «Dissociative Experience Scale (DES)» oder «Structured Clinical Interview for DSM Dissociative Disorders (SCID-D)», um hier nur einige zu nennen. Dabei korrelieren höhere Dissoziations-Scores mit akuter und/oder chronischer Traumatisierung (Simeon & Loewenstein, 2009).
Auch in Bezug auf die Neurobiologie gibt es immer mehr Evidenz, dass sich die Reaktion des autonomen Nervensystems (primitiv vagale Reaktion) auf Stress in einem Phänomen des «Eingefrorenseins» (freeze response) äussern kann (Porges, 2011; Schauer & Elbert, 2010; Simeon & Loewenstein, 2009). Hier sei allerdings erwähnt, dass es unterschiedliche Arten von Dissoziation gibt. Im Falle der dissoziativen Identitätsstörung können, in Abgrenzung zur Trance-artigen Abwesenheit bzw. «freeze reaction», Patient*innen auch voll funktionsfähig sein. Auf die unterschiedlichen Formen der Dissoziation wird ein anderes Mal detaillierter eingegangen.
Zudem zeigen Studien mithilfe Positronenemissionstomographie und funktioneller Magnetresonanztomographie, dass zwischen simulierenden Patient*innen und DIS-Patient*innen ein Unterschied in Hirnaktivität und psychophysiologischen Mustern besteht (Loewenstein, 2018; Reinders et al., 2016).
Fazit
Gegenwärtige hitzige Diskussionen rund um das Thema reissen nicht ab. Was dabei auf wissenschaftlichen Fakten beruht und was aus reiner Überzeugung gesagt und geschrieben wird, ist häufig nicht zu unterscheiden und geht in der Emotionalität häufig unter. Gerade als Laie oder als Fachperson mit wenig Erfahrung ist dieser Umstand schwierig zu differenzieren. Weitere Forschung auf diesem Gebiet ist nötig, um Licht ins Dunkle zu bringen. Schlussendlich geht es um das Wohl der Patient*innen und der Linderung ihres Beschwerdebildes und nicht um akademische Profilierung und Überzeugungen.
Referenzen
Brand, B. L., Loewenstein, R. J., & Spiegel, D. (2014). Dispelling myths about dissociative identity disorder treatment: an empirically based approach. Psychiatry, 77(2), 169-189. https://doi.org/10.1521/psyc.2014.77.2.169
Dalenberg, C. J., Brand, B. L., Gleaves, D. H., Dorahy, M. J., Loewenstein, R. J., Cardeña, E., Frewen, P. A., Carlson, E. B., & Spiegel, D. (2012). Evaluation of the evidence for the trauma and fantasy models of dissociation. Psychol Bull, 138(3), 550-588. https://doi.org/10.1037/a0027447
Loewenstein, R. J. (2018). Dissociation debates: everything you know is wrong. Dialogues Clin Neurosci, 20(3), 229-242. https://doi.org/10.31887/DCNS.2018.20.3/rloewenstein
Paris, J. (2012). The rise and fall of dissociative identity disorder. J Nerv Ment Dis, 200(12), 1076-1079. https://doi.org/10.1097/NMD.0b013e318275d285
Porges, S. W. (2011). The polyvagal theory: Neurophysiological foundations of emotions, attachment, communication, and self-regulation (Norton Series on Interpersonal Neurobiology). WW Norton & Company.
Reinders, A. A., Willemsen, A. T., Vissia, E. M., Vos, H. P., den Boer, J. A., & Nijenhuis, E. R. (2016). The psychobiology of authentic and simulated dissociative personality states: The full monty. The Journal of nervous and mental disease, 204(6), 445-457.
Schauer, M., & Elbert, T. (2010). Dissociation Following Traumatic Stress. Zeitschrift für Psychologie, 218. https://doi.org/10.1027/0044-3409/a000018
Simeon, D., & Loewenstein, R. (2009). Dissociative Disorders. In (pp. 1965-2026).
World Health Organization (WHO). (2023). ICD-11 for Mortality and Morbidity Statistics. Retrieved 06.05.2023 from https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http%3a%2f%2fid.who.int%2ficd%2fentity%2f108180424