Geflüchtete Kinder und Jugendliche im kulturellen Spannungsfeld
(Raduner, Sutter, Ruchti & Baumann)

Ein Blick in die gängigen Nachrichtenmedien genügt, um festzustellen, dass viele Menschen aus unterschiedlichsten Gründen ihre Heimat verlassen müssen. Dabei waren von den im Jahre 2020 erfassten 82 Millionen Geflüchteten 42% minderjährig (United Nations High Commissioner for Refugees, 2021). So wurden beispielsweise in Deutschland bis Ende 2020 rund 22'000 unbegleitete minderjährige Geflüchtete registriert (Karpenstein & Rohleder, 2022). Auch in der Schweiz nehmen Asylgesuche von Minderjährigen kontinuierlich zu. Rund 15'000 Asylgesuche wurden 2021 gestellt. Davon waren 44% Kinder und Jugendliche, mehrheitlich 13 bis 17 Jahre alt, davon wiederum waren 15% unbegleitet. Häufigste Herkunftsländer waren Afghanistan, Eritrea, Türkei und Syrien (Staatssekretariat für Migration, 2022).
Im folgenden Beitrag möchten wir einen kurzen Überblick zu psychischen Belastungen geflüchteter Kinder und Jugendlichen vermitteln und auf welche Art und Weise hierbei psychologische erste Hilfe zum Zuge kommt. Anschliessend wird auf die Thematik der kulturellen Anpassung psychologischer Unterstützung eingegangen und abschliessend ein paar Beispiele dafür aufgezeigt.
Psychische Belastungen von geflüchteten Kindern und Jugendlichen
Geflüchtete Kinder und Jugendliche sind aufgrund traumatischer Erlebnisse gefährdet, psychische Erkrankungen zu entwickeln. Nach Höltermann et al. (2022) zeigt sich dies noch deutlicher bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten. Diese erleben im Vergleich mit begleiteten Minderjährigen meist wesentlich mehr traumatisierende Ereignisse im Herkunftsland und auf der Flucht. Darunter fallen Ereignisse wie Krankheiten, Unfälle, Naturkatastrophen sowie körperliche und sexuelle Misshandlungen. Somit ist es nicht verwunderlich, dass rund 44% der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) aufweisen, welche eine Behandlung erfordern würden (weitere Informationen zur PTBS siehe Beitrag «Wissen Kompakt: Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) im Überblick»). Bei den begleiteten Flüchtlingen sind es rund 28% (Höltermann et al., 2022).
Nebst den Belastungen aus Herkunftsland und von Fluchterfahrungen kommen oft auch Belastungen im Aufnahmeland hinzu wie zum Beispiel Diskriminierungserfahrungen, geringe soziale Unterstützung oder unsicherer Aufenthaltsstatus (Walg et al., 2022).
Psychologische erste Hilfe (PEH)
Psychologische erste Hilfe beschreibt «mitmenschliche, unterstützende Reaktionen gegenüber leidenden und hilfsbedürftigen Individuen. (…) PEH ist nicht nur auf Profis beschränkt [und] sie ist keine fachliche Beratung/Therapie» (Österreichisches Rotes Kreuz, 2015).
Im Ankunftsland kommen somit psychisch stark belastete, teilweise traumatisierte, unbegleitete Minderjährige nach der Flucht an. Meist erhalten diese Personen dann psychologische erste Hilfe direkt vor Ort in Geflüchtetenlagern, Schulen oder Heimen. Die Ziele dieser ersten Hilfe sind in untenstehender Tabelle aufgeführt:
Ziele | Beschreibung |
Förderung der Sicherheit | Traumatische Erlebnisse gehen mit einem Verlust des Sicherheitsgefühls einher. Bei Kindern kann dies dazu führen, dass sie in früheres Entwicklungsverhalten zurückfallen (z.B. Trennungsangst). Durch die psychologische erste Hilfe werden die Kinder darin unterstützt, die damit verbundenen physiologischen und psychologischen Reaktionen zu reduzieren und zu bewältigen. Ausserdem befähigen sie die Bezugspersonen (z.B. Eltern, Betreuende) dazu, die Kinder besser zu unterstützen und wieder eine Familienroutine herzustellen. |
Beruhigung | Traumatische Erlebnisse erzeugen Angst und damit verbunden Erregung, welche zu Schlaflosigkeit und Konzentrationsproblemen führen können. Für betroffene Kinder ist es daher wichtig, dass sie Techniken erlernen, mit denen sie sich selbst beruhigen können (z.B. Atemübungen, Muskelentspannung). |
Förderung der Selbst- und Gemeinschaftswirksamkeit | Der mit der Flucht einhergehende Verlust von persönlichen, sozialen und wirtschaftlichen Ressourcen (z.B. Beziehungen, Arbeit, gesichertes Einkommen) führt zu einem Fehlen von Selbstwirksamkeit und ebenfalls ins Vertrauen in die Fähigkeit der Gemeinschaft. Dazu stellt die psychologische erste Hilfe Wissen zu Verfügung, wo Hilfe empfangen werden kann (z.B. in Form von Gemeinschaftsaktivitäten, Beratungsangeboten). |
Förderung der Verbundenheit | Die Traumaforschung zeigt auf, dass soziale Unterstützung und Verbundenheit zu einem besseren emotionalen Befinden und zur Traumagenesung beitragen. Daher fördert die psychologische erste Hilfe die familiäre und gemeinschaftliche Verbundenheit (z.B. indem Einzelpersonen mit ihrer Familie und Gemeinschaft in Kontakt gebracht werden). |
Hoffnung | Das Vorhandensein von Hoffnung kann als eine äusserst wichtige Komponente bezüglich der Genesung eines Traumas identifiziert werden. Optimismus, positive Erwartung und Vertrauen. Viele Interventionen der psychologischen ersten Hilfe sind darauf ausgelegt, die Zukunftshoffnung zu fördern (z.B. Unterstützung im Wiederaufbau des Lebens der Familien, Bereitstellung von Informationen). |
Eigene Darstellung (Brymer et al., 2008)
In der Begleitung und Unterstützung von geflüchteten Menschen und eben auch besonders bei Minderjährigen müssen die Ziele der psychologischen ersten Hilfe an den jeweiligen Umständen angepasst und dementsprechend gestaltet werden. Sukale et al. (2010) schlagen hier beispielsweise den Einbezug der nahen Bezugspersonen der Minderjährigen und das Hinzuziehen von Dolmetscher*innen vor, aber auch das Anpassen des Angebots an die jeweilige kulturelle Herkunft vor. Kulturelle Unterschiede zeigen sich nämlich nicht nur in der Sprache oder in verschiedenen Werten und Normen. Sie können auch Einfluss auf das Erkennen und Beschreiben von Symptomen psychischer Probleme haben (Sukale et al., 2020). Ein Beispiel dazu ist bei der Betrachtung des somatischen Syndroms, das bei einer Depression auftritt, zu finden. Betroffene klagen über körperliche Beschwerden wie Kopf-, Nacken oder Rückenschmerzen, Muskelschmerzen oder Magen-Darm-Beschwerden. Auch allgemeine Klagen und Berichte über körperliche Schwäche, Erschöpfungsgefühle, Beklemmung und Herzrasen sind Teil davon (Assion & Stompe, 2014). Das somatische Syndrom ist zwar kulturübergreifend und fester Bestandteil einer depressiven Symptomatik, es zeigt sich jedoch je nach Kultur unterschiedlich stark ausgeprägt.
In nicht-westlichen beziehungsweise kollektivistischen Kulturen zeigt sich der Ausdruck körperlicher Beschwerden im Rahmen einer depressiven Erkrankung häufiger. In diesen Kulturen herrschen sogenannte externale Körperkonzepte, welche davon ausgehen, dass Krankheit «von aussen» kommt. Stimmungs- und Verstimmungszustände finden in kollektivistischen Kulturen häufiger über körperliche Symptome Ausdruck (Assion & Stompe, 2014).
Ein weiteres Beispiel für kulturell abhängige Erwartungen bzw. Interpretationen kann sich im direkten Kontakt zwischen Therapeut*in und Patient*in zeigen. In kollektivistischen Kulturen ist die Beziehung zwischen Therapeut*in und Patient*in hierarchisch geprägt. Das bedeutet, dass der*die Therapeut*in entscheidet und die Richtung der Therapie vorgibt. Andere Verhaltensweisen können von den Patient*innen als Zeichen der Inkompetenz gedeutet werden. Da in westlichen Kulturen die Arbeitsbeziehung zwischen Therapeut*in und Patient*in grundsätzlich auf Augenhöhe stattfindet, kann dies zu Missverständnissen und Abbrüchen der Therapie führen, falls diesem Unterschied nicht genügend Rechnung getragen wird. Ebenfalls kann die erwartete, aber fehlende Eigeninitiative von geflüchteten Menschen in der Therapie von westlichen Therapeut*innen als fehlende Motivation oder Ablehnung interpretiert werden (Peseschkian, 2020).
Um solchen beispielhaften Missverständnissen entgegenzuwirken, müssen die verschiedenen Konzepten von Psychotherapie, Schweigepflicht oder der Beruf des*r Therapeut*in den Betroffenen erklärt werden. Dazu benötigt es Achtsamkeit, Offenheit und Bewusstsein über diese Tatsache der hiesigen Therapeut*innen (Sukale et al., 2020).
Kulturelle Anpassung von psychologischen Unterstützungsangeboten
Diese Beispiele zeigen auf, wie wichtig der Einbezug des kulturellen Werte- und Bewertungssystems ist. Es wird ersichtlich, dass auch die Unterstützungsangebote für geflüchtete Menschen kulturell angepasst werden müssen.
Definition: Kulturelle Anpassung von psychologischen Unterstützungsangeboten (Bernal et al., 2009): Darunter wird eine gezielte Änderung einer sich als wirksam erwiesener Behandlung unter Berücksichtigung von Sprache, Kultur und Umfeld verstanden. Dabei wird darauf geachtet, dass die Behandlungsmethoden mit den kulturellen Mustern, Bedeutungen und Werten der Betroffenen vereinbar sind.
Diese Anpassungen sind natürlich auch in der Begleitung und der Therapie von geflüchteten Kindern und Jugendlichen essentiell. Im folgenden Abschnitt werden dazu einige Beispiele von kulturellen Anpassungen in der Therapie aufgezeigt.
Therapiemethode | Erklärung |
Trauma-Systemtherapie für traumatisierte Flüchtlingskinder (TST-R) | Schwerpunkt auf Miteinbezug der Gemeinschaft und Bezugspersonen Miteinbezug einer kulturell vermittelnden Person (dieselbe Muttersprache und kultureller Hintergrund wie die Kinder), sie funktionieren als «Brücke» zwischen den unterschiedlichen Kulturen und erleichtern den Zugang zu unterstützenden, psychologischen Angeboten |
Problem Management Plus (PM+) | Von Laienpersonen durchgeführtes Kurz-Programm zur Verbesserung des Umgangs mit praktische Problemen (z.B. Arbeitslosigkeit, zwischenmenschlichen Schwierigkeiten und den damit verbundenen psychischen Belastungen) Kann auch als Gruppenangebot durchgeführt werden Viel Forschung zu dessen Wirksamkeit in kulturell angepasster Form (z. B. Acarturk et al., 2022; Akhtar et al., 2021; Spaaij et al., 2022) |
Eigene Darstellung (Kaplin et al., 2019; Ellis et al., 2013; Dawson et al., 2015)
Ein konkretes Beispiel für die kulturellen Anpassungen in einem PM+ Gruppenprogramm für syrische Geflüchtete führen Akhtar et al. (2021) an. Auf sprachlicher Ebene wird zum Beispiel von «Training in Lebenskompetenzen und Alltagsfähigkeiten» anstatt von «psychologischer Intervention» gesprochen. Des Weiteren wird die Unterstützung einzelner Personen durch geschlechterspezifische Anpassungen ergänzt (z. B. dosierte Berührung mit Hand auf Schulter und Augenkontakt bei Frauen; Verzicht auf jeglichen Körperkontakt und dafür verständnisvolles, empathisches Lächeln bei Männern). Inhaltlich wurden Entspannungstechniken von Yoga durch Methoden wie Musik hören, Koran lesen und Beten ersetzt (Akhtar et al., 2021).
Obwohl die Wirksamkeit traumafokussierter Therapiemethoden gut etabliert ist, bleibt die Befundlage zu (insbesondere kulturell adaptierten) psychologischen Interventionen für geflüchtete Kinder dünn. Die Betreuung von Geflüchteten und speziell von Minderjährigen ist eine Herausforderung. Selbst für Einheimische ist die Therapie von psychischen Symptomen nicht einfach, was sich bei Geflüchteten durch unterschiedliche Werte, Normen und Bedürfnisse noch verschärft. Wichtig ist vor allem, dass diese Unterschiede berücksichtigt werden, was nicht nur dem*der Therapeut*in Offenheit und Neugier abverlangt, sondern eine spezifische, kultursensitive Ausbildung notwendig macht.
Referenzen
Akhtar, A., Engels, M. H., Bawaneh, A., Bird, M., Bryant, R., Cuijpers, P., Hansen, P., Al-Hayek, H., Ilkkursun, Z., Kurt, G., Sijbrandij, M., Underhill, J., Acarturk, C., & Consortium, and O. behalf of the S. (2021). Cultural Adaptation of a Low-Intensity Group Psychological Intervention for Syrian Refugees. Intervention, 19(1), 48. https://doi.org/10.4103/INTV.INTV_38_20
Assion, H.-J. & Stompe, T. (2014). Kultur und Depression. In T. Stompe & Ritter, K. M. (Hrsg.), Krankheit und Kultur – Einführung in die kulturvergleichende Psychiatrie (S. 57–70) Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. Verfügbar unter: https://library.oapen.org/handle/20.500.12657/44055
Bernal, G., Jiménez-Chafey, M. I., & Domenech Rodríguez, M. M. (2009). Cultural adaptation of treatments: A resource for considering culture in evidence-based practice. Professional Psychology: Research and Practice, 40(4), 361–368. https://doi.org/10.1037/a0016401
Brymer, M. J., Steinberg, A. M., Sornborger, J., Layne, C. M., & Pynoos, R. S. (2008). Acute interventions for refugee children and families. Child and Adolescent Psychiatric Clinics of North America, 17(3), 625–640, ix. https://doi.org/10.1016/j.chc.2008.02.007
Dawson, K. S., Bryant, R. A., Harper, M., Kuowei Tay, A., Rahman, A., Schafer, A., & van Ommeren, M. (2015). Problem Management Plus (PM+): A WHO transdiagnostic psychological intervention for common mental health problems. World Psychiatry: Official Journal of the World Psychiatric Association (WPA), 14(3), 354–357. https://doi.org/10.1002/wps.20255
Ellis, B. H., Miller, A. B., Abdi, S., Barrett, C., Blood, E. A., & Betancourt, T. S. (2013). Multi-tier mental health program for refugee youth. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 81(1), 129–140. https://doi.org/10.1037/a0029844
Höltermann, A., Scharf, F., Romer, G., & Möller-Kallista, B. (2022). Psychische Belastung bei unbegleiteten und begleiteten Flüchtlingen im Kindes- und Jugendalter in Deutschland. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 50(5), 369–381. https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000855
Kaplin, D., Parente, K., & Santacroce, F. A. (2019). A review of the use of trauma systems therapy to treat refugee children, adolescents, and families. Journal of Infant, 18(4), 417–431. https://doi.org/10.1080/15289168.2019.1687220
Karpenstein, J. & Rohleder, D. (2022). Die Situation geflüchteter junger Menschen in Deutschland. Berlin: Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e. V. Verfügbar unter: https://b-umf.de/material/umfrage-2021/
Österreichisches Rotes Kreuz. (2015). Psychische erste Hilfe. Handbuch. Verfügbar unter: https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/44615/9789241548205_ger.pdf;jsessionid=78BD68ED433EFD08CBC5AECE1CD1F187?sequence=57
Peseschkian, H. (2020). Psychiatrie und Psychotherapie. In A. Gillessen, S. Golsabahi-Broclawski, A. Biakowski, A. Broclawski (Hrsg.), Interkulturelle Kommunikation in der Medizin (S. 261–274). Berlin: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-59012-6_25
Schottelkorb, A. A., Doumas, D. M., & Garcia, R. (2012). Treatment for childhood refugee trauma: A randomized, controlled trial. International Journal of Play Therapy, 21, 57–73. https://doi.org/10.1037/a0027430
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Sukale, T., Fegert, J. M., Kölch, M., & Pfeiffer, E. (2020). Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung. In M. Kölch, M. Rassenhofer, & J. M. Fegert (Hrsg.), Klinikmanual Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (S. 329–344). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-58418-7_19
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Walg, M., Avaliani, T., Großmeier, M., & Hapfelmeier, G. (2022). Psychische Erkrankungen und der Bedarf an Attesten von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz. Die Psychotherapie, 67(4), 337–343. https://doi.org/10.1007/s00278-022-00581-2