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Jugendliche - eine vernachlässigte Stichprobe?

Jugendliche gelten aus Erwachsenensicht oftmals als «schwierig» und «unzuverlässig», machen häufig Probleme. Die deutsche Ärztin und Hochschulprofessorin mit Spezialisierung auf Kinder- und Jugendpsychiatrie Prof. Dr. Annette Streeck-Fischer schreibt in ihrem Buch «Trauma und Entwicklung: Adoleszenz - frühe Traumatisierungen und ihre Folgen» (2014):

«Therapeuten, die mit ihnen zu tun haben, sind häufig rat- und hilflos. Oft genug scheitern ihre therapeutischen Bemühungen. [...] Für Jugendliche in der Zeit des Übergangs zwischen Kindheit und Erwachsenenalter fühlen sich weder die Erwachsenenpsychiater und -psychotherapeuten, noch die Kinderpsychiater und -psychotherapeuten zuständig. Die Adoleszenz ist ein Stiefkind [...]» (Streeck-Fischer, 2014)

Im Merck Manual (Handbuch für Medizin von Merck & Co.) wird Adoleszenz als Entwicklungsphase bezeichnet, in der «Kinder zu unabhängigen Erwachsenen heranreifen. Diese Phase beginnt in der Regel bei etwa 10 Jahren und dauert bis in die späten Teenager- oder frühen 20er Jahre hinein.» (Graber in MSD Manual, 2019).

Während dieser Zeit durchlaufen Jugendliche körperliche, geistige, intellektuelle, emotionale und soziale Entwicklungen.

Mehr dazu im folgenden Beitrag von Vanessa: https://www.netzwerktrauma.ch/post/jugendliche-und-trauma

Jugendliche, die sich traumatisierenden Belastungssituationen bzw. ungünstigen Entwicklungsbedingungen ausgesetzt sehen, sind - gemäss Streeck-Fischer (2014) mit erschreckender Zwangsläufigkeit - gefährdet, in Re-/Neutraumatisierungen zu geraten. Ohne angemessene Betreuung liegt der Griff zu adoleszenztypischen «Selbsthilfemassnahmen» wie Alkohol, Drogen, Gewalt oder selbstverletzendem Verhalten nicht weit entfernt. Leider wird häufig übersehen, dass es sich dabei um Notstandsmassnahmen handelt und die betroffenen Jugendlichen Hilfe benötigen (Streeck-Fischer, 2014).



Forschungsbedarf

Studien, die sich mit den Auswirkungen von Traumata im Kindes- bzw. Jugendalter befassen, beziehen sich fast ausschliesslich auf die (am besten erforschte) klassische, nicht-komplexe posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) als Traumafolgestörung. Damit einher geht eine auffallend hohe Komorbidität (begleitend) mit Affektdysregulation (z.B. Depression, Manie), Angststörungen, Beziehungsstörungen, Störungen des Sozialverhaltens (z.B. Aggressivität) und Somatisierungsstörungen (z.B. anhaltende Müdigkeit, Magen-, Darm-, Herzbeschwerden) (Landolt & Hensel, 2012).

Mehr dazu in Katja's Beitrag: https://www.netzwerktrauma.ch/https://www.netzwerktrauma.ch/post/übersicht-komorbiditäten-ptbs


Die 11. Version der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) enthält eine aktualisierte Diagnose der PTBS und eine neue Diagnose der komplexen PTBS (kPTBS) (WHO, 2018).

Siehe dazu: https://www.netzwerktrauma.ch/post/wie-die-komplexe-posttraumatische-belastungsstörung-in-das-icd-11-aufgenommen-wurde


Die Art eines Traumas stellt keine Voraussetzung für die Entwicklung einer kPTBS oder PTBS dar. Es zeichnet sich die Tendenz ab, dass kPTBS eher mit multiplen und chronischen Traumata (Typ-II-Traumata) als Risikofaktor in Verbindung gebracht wird - besonders dann, wenn sich ein Entkommen aus der Situation als schwierig gestaltet. Als Beispiele dafür sind etwa sexueller oder körperlicher Missbrauch in der Kindheit zu nennen, wie Befunde in erwachsenen Stichproben gezeigt haben (Brewin et al., 2017; Cloitre et al., 2020; zitiert nach Daniunaite et al., 2021).


Während die meisten Studien zu kPTBS an erwachsenen Stichproben durchgeführt wurden, fällt die Datenlage bei Kindern und Jugendlichen eher spärlich aus.


kPTBS bei Jugendlichen - eine der wenigen Studien

Vor diesem Hintergrund haben Daniunaite et al. (2021) in einer Querschnittsstudie (= einmalige Untersuchung, Momentaufnahme) an 1299 litauischen Jugendlichen im Alter von 12 bis 16 Jahren untersucht, wie die Traumavorgeschichte und andere Faktoren (z.B. Familien-, Schul- und soziale Situation) zur Entwicklung einer kPTBS - im Gegensatz zur Entwicklung einer nicht-komplexen PTBS - im Jugendalter beitragen. Als Instrument zur Erfassung der PTBS- bzw. kPTBS-Kernsymptome diente der ITQ-CA-Fragebogen - die Kinder- und Jugendversion des Internationalen Trauma-Fragebogens (International Trauma Questionnaire ITQ). Der Fragebogen basiert auf den Kriterien des ICD-11 (Daniunaite et al., 2021).


Studienergebnisse

Soziodemographische Merkmale

Zwischen Studienteilnehmenden mit vorwiegend nicht-komplexen PTBS-Kernsymptomen und Studienteilnehmenden mit vorwiegend kPTBS-Kernsymptomen lassen sich hinsichtlich Merkmale wie Alter, Geschlecht, Nationalität, Bildung, Eltern und Familienstruktur keine signifikanten Unterschiede feststellen (Daniunaite et al., 2021).

Statistische Signifikanz

Die statistische Signifikanz sagt aus, ob ein Zusammenhang zwischen Merkmalen besteht, der über den Zufall hinausreicht. Einfacher erläutert wird damit die Wahrscheinlichkeit ermittelt, dass der genannte Zusammenhang nicht nur zufällig entstanden ist, sondern tatsächlich etwas zu bedeuten hat.


(Alleinerziehende/Pflegeeltern = kodiert als "andere")


Traumaexposition

Unterschiede in der Art der Traumaexposition zeigen sich im Bereich der interpersonellen Traumata:

Studienteilnehmende aus der «kPTBS-Gruppe» berichteten über signifikant mehr Erfahrungen von körperlicher Misshandlung ausserhalb der Familie und Traumaerfahrungen im interpersonellen (= zwischenmenschlichen) Bereich als Studienteilnehmende aus der «PTBS-Gruppe».


Die Mehrheit beider Gruppen - also sowohl der Studienteilnehmenden mit vorwiegend nicht-komplexen PTBS-Kernsymptomen wie auch der Studienteilnehmenden mit vorwiegend kPTBS-Kernsymptomen - gaben an, multiplen (= mehrfachen) traumatischen Erfahrungen ausgesetzt gewesen zu sein.


Soziale Probleme

Die Studienteilnehmenden mit vorwiegend kPTBS-Kernsymptomen berichteten häufiger über familiäre und schulische Probleme wie Mobbing und Konflikte zu Hause. Darüber hinaus erfahren Jugendliche aus der «kPTBS-Gruppe» nach eigenen Angaben deutlich weniger soziale Unterstützung als Jugendliche der «PTBS-Gruppe».



Diskussion und Ausblick

Traumatisierungen in der Kindheit und Jugend können weitreichende Folgen für Betroffene und Umfeld haben - nicht selten bis ins Erwachsenenalter hinein. Werden die Traumafolgen nicht angemessen (professionell) aufgearbeitet, können psychiatrische Langzeiterkrankungen, medizinische Probleme, Substanzmittelmissbrauch, Berufsunfähigkeit oder gar Abrutschen in die Kriminalität drohen.


Für Aussenstehende kann es durchaus schwierig sein, einen krisenhaften Verlauf der Adoleszenz von einem normalen Verlauf zu unterscheiden; Jugendliche in der Entwicklung vom Kind zur/zum Erwachsenen emanzipieren sich schrittweise von der elterlichen Fürsorge und sind auf der Suche bzw. der Findung des eigenen Selbst und dem eigenständigen Platz in der Gesellschaft. Jugendlichen werden Risikoverhalten und Übertretungen als entschuldbar zugestanden - es wird teilweise sogar fast von ihnen «erwartet». Trotz alledem ist es essenziell, Trauma-/Belastungsfolgen bei Jugendlichen frühzeitig zu erkennen und ernst zu nehmen.


Studien und Daten zu trauma-/belastungsbezogenen Störungen bei Jugendlichen lassen sich weitaus weniger finden, als dass es bei Kindern oder Erwachsenen der Fall ist. Die meisten davon fokussieren sich auf die klassische, nicht-komplexe PTBS. Durch jahrzehntelange Forschung und neue Forschungsergebnisse hat sich gezeigt, dass die Kriterien der klassischen PTBS zum Teil nicht alle Erscheinungsformen von Traumatisierung abzubilden vermögen. Vor diesem Hintergrund wurden die komplexen Traumafolgen im ICD-11 mit der Diagnose der kPTBS adressiert.


Die vorliegende Studie von Daniunaite et al. (2021) untersuchte erstmals an einer jugendlichen Stichprobe, welche (Einfluss-)Faktoren zwischen den Diagnosestatus PTBS und kPTBS unterscheiden können. Mittels statistischer Analyseverfahren wurde aus den (subjektiven) Angaben litauischer Jugendlichen ermittelt, dass vor allem die Exposition gegenüber interpersonellen Traumata signifikant mit der Entwicklung einer kPTBS assoziiert werden kann. Weiter kristallisierten sich soziale Faktoren wie Schwierigkeiten und Konflikte in der Familie und in der Schule sowie mangelnde Unterstützung als signifikante Prädiktoren (= "Voraussager") für den kPTBS- bzw. PTBS-Status heraus.

Diese Studienergebnisse decken sich mit der Hypothese von Daniunaite et al., dass die kPTBS im Vergleich zur PTBS durch grössere soziale und familiäre Schwierigkeiten gekennzeichnet ist.


Vor dem Hintergrund, dass sich die komplexe von der nicht-komplexen PTBS u.a. im Bereich der sozialen Beziehungen unterscheidet, ergeben diese Studienergebnisse durchaus Sinn; belastende Erfahrungen im zwischenmenschlichen Bereich führen bei komplex traumatisierten Jugendlichen zu Vertrauensschwierigkeiten und Schwierigkeiten in der Konfliktbewältigung. Oftmals fehlt auch das Gespür für die eigenen Grenzen, sodass sie erneut in problematische Situationen geraten.


Daniunaite et al. fordern weitere Studien über die Auswirkungen von Traumata im Jugendalter, um die Ergebnisse ihrer Studie zu replizieren (= wiederholen, vervielfältigen). Sie sehen in der Identifikation anderer, weiterer Faktoren - die neben der Traumaexposition zur Entwicklung einer komplexen Traumatisierung im Jugendalter beitragen könnten - das Fundament für erfolgreiche Prävention. Weiter soll das Verständnis der Rolle sozialer Faktoren bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung einer kPTBS Informationen für zukünftige Interventionen liefern, die auf wichtige Aspekte des Lebens von Jugendlichen abzielen.




PTSD and complex PTSD in adolescence discriminating factors in a population based cross se
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Referenzen

Daniunaite, I., Cloitre, M., Karatzias, T., Shevlin, M., Thoresen, S., Zelviene, P., & Kazlauskas, E. (2021). PTSD and complex PTSD in adolescence: discriminating factors in a population-based cross-sectional study. European journal of psychotraumatology, 12(1), 1890937.


Streeck-Fischer, A. (2014). Trauma und Entwicklung: Adoleszenz–frühe Traumatisierungen und ihre Folgen. Schattauer Verlag.


Graber, E. (2019, Februar). Entwicklung in der Adoleszenz. MSD Manual, Ausgabe für medizinische Fachkreise. https://www.msdmanuals.com/de/profi/p%C3%A4diatrie/wachstum-und-entwicklung/entwicklung-in-der-adoleszenz


Landolt, M. A., & Hensel, T. (Eds.). (2012). Traumatherapie bei Kindern und Jugendlichen. Hogrefe Verlag GmbH & Company KG.


Brewin, C. R., Cloitre, M., Hyland, P., Shevlin, M., Maercker, A., Bryant, R. A., . . . Reed, G. M. (2017). A review of current evidence regarding the ICD-11 proposals for diagnosing PTSD and complex PTSD. Clinical Psychology Review, 58(April), 1–15. doi:10.1 016/j.cpr.2017.09.001.


Cloitre, M., Brewin, C. R., Bisson, J. I., Hyland, P., Karatzias, T., Lueger-Schuster, B., Shevlin, M. (2020). Evidence for the coherence and integrity of the complex PTSD (CPTSD) diagnosis: Response to Achterhof et al., (2019) and Ford (2020). European Journal of Psychotraumatology, 11(1), 1739873. doi:10.10 80/20008198.2020.1739873.


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