Sind DIS-Patient:innen gefährlich
Ein Blick in die aktuellen Streamingdienste und man wird fündig: ein:e Täter:in mit einer dissoziativen Identitätsstörung in den sog. "True-Crime-Serien". Diese und andere Filme wie "Split" oder "Glass" können einen dazu verleiten, zu denken, die dissoziative Identitätsstörung sei ein gefährliches Krankheitsbild. Nicht selten werden solche Patient:innen als "Kuriositäten" betrachtet, was medial in Form von Sensationsgier entsprechend genutzt wird. Doch ist es wirklich so, dass DIS-Patient:innen häufiger gewalttätig und straffällig werden? Sicher ist, so wie es in der gesunden Bevölkerung Straftäter:innen gibt, wird es auch unter DIS-Patient:innen Straftäter:innen geben. Denn, von der Erkrankung sind ca. 1% der Bevölkerung betroffen, d.h. 1 von 100 Personen hat diese Erkrankung. Die dissoziative Identitätsstörung (Syn.: multiple Persönlichkeitsstörung) ist eine Persönlichkeitsstörung, welche dadurch gekennzeichnet ist, dass die Persönlichkeit in mindestens zwei Persönlichkeitsanteile (oder auch Alter-Egos, Ego-States, dissoziative Identitäten) aufgespalten wird. Vor dem Hintergrund, dass der DIS immer traumatische Erlebnisse zugrunde liegen und diese Personen meist früh mit Gewalt und Missbrauch in Kontakt kamen, könnte man zum Schluss kommen, dass diese Gewalt in irgendeinem Persönlichkeitsanteil gespeichert sein müsste. Gewalttätigkeit und psychische Krankheit generell Menschen mit psychischen Störungen, die stark stigmatisiert und missverstanden werden, wie z. B. Schizophrenie, Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPD) und dissoziative Identitätsstörung (DIS), sind oft schädlichen und ungenauen Stereotypen ausgesetzt, die sie als gefährliche und unbehandelbare Bedrohung darstellen, die eine psychiatrische oder forensische Institutionalisierung benötigen (Webermann et al., 2017). Verschiedene Studien untersuchten den Zusammenhang von psychischen Erkrankungen und Gewalt und kamen zum Schluss, dass Substanzabhängigkeit am häufigsten mit Gewalt assoziiert war. In der Regel war die dissoziative Identitätsstörung (DIS) nicht Bestandteil dieser Studien, trotzdem hält sich das Vorurteil der Fremdgefährdung hartnäckig, was Hollywood gerne aufgreift. Kaplan und Kollegen (1998) fanden eine positive Korrelation zwischen dissoziativen Merkmalen und berichteten allgemeine Aggression. Ältere Studien: DIS und Gewalt Viele Studien fragten nach den gewalttätigen und/oder mörderischen dissoziativen Persönlichkeitsanteilen. Therapeuten berichteten, dass zwischen zwischen 33 und 70 % der DIS-Patient:innen gewaltätige Persönlichkeitsanteile aufweisen (Dell et al.,1990, Kluft et al.,1987; Loewenstein et al., 1990; Putnam et al. 1986). Zuweilen bedrohen aggressive Persönlichkeitsanteile bei Menschen mit DIS andere Persönlichkeitsanteile, die von einigen Patient:innen als verinnerlichte Mordgedanken und/oder Drohungen wahrgenommen werden, und aber, wenn sie ausgeführt werden, zum Selbstmord und nicht zu einem Mord an anderen führen. Auch Putnam et al. (1986) kamen zum Schluss, dass 53% der aggressiven Persönlichkeitsanteilen intern suizidal waren. In den oben genannten Fallstudien berichteten die Kliniker, dass 38-55 % ihrer DIS-Patienten eine Vorgeschichte mit gewälttätigem Verhalten aufwiesen (Dell et al., 19990; Loewenstein et al., 1990; Kluft et al., 1987; Ross et al. 1989). Ross und Norton (1989) berichteten, dass von 236 DIS-Patienten 29 % der männlichen und 10% der Frauen angaben, wegen eines Verbrechens verurteilt worden zu sein, und der gleiche Prozentsatz berichtete ebenfalls über eine Inhaftierung. Diese Zahlen scheinen eindeutig, aber sind sie auch konsistent mit erst kürzlichen Forschungsergebnissen?
Neuere Studien: Relativierung der Gewalt von DIS-Patient:innen Im Rahmen der internationalen, prospektiven Studie des "Treatment of Patients with DIS"-Netzwerks (TOP DD), geben nur 2% der Kliniker und 4-7% der Patient:innen an, dass DIS-Patient:innen sexuelle Nötigung oder sexuelle Übergriffe gegenüber einem Partner in ihrem Erwachsenenleben verübt haben (Webermann et al., 2016). Zusätzlich waren Raten von Gewalt in der Partnerschaft unter DIS-Patienten niedrig. In einer weiteren Studie gaben 12.7% der DIS-Patient:innen an, in den letzten 6 Monaten mit der Polizei in Kontakt gestanden zu haben (ohne Angabe des genauen Grundes). Die Patienten berichteten über niedrige Raten von kriminellem Verhalten in den letzten 6 Monaten (für eine vollständige Auflistung der Ergebnisse siehe Anhang Webermann et al., 2017, Tabelle 6). 4,8 % gaben an, in ein Gerichtsverfahren verwickelt gewesen zu sein, obwohl nicht bekannt ist, welche Rolle der:die Patient:in in dem Gerichtsverfahren spielte (z. B. Zeuge, Opfer, mutmaßlicher Straftäter); 3,6 % waren Zeugen in einem Strafverfahren; 3 % berichteten von einer Strafanzeige; 1,8 % berichteten über eine Geldstrafe; 1,2 % berichteten über eine eine strafrechtliche Überweisung in eine Psychiatrie; und 0,6 % berichteten inhaftiert worden zu sein (Webermann et al., 2017). In der Schweiz wurden bis zum Stichtag im Jahr 2022 6310 Personen inhaftiert, was ca. 0.01% der Gesamtbevölkerung entspricht. (Bundesamt für Statistik, 2022). Vergleichen wir dazu DIS-Betroffene: Bei einer Prävalenz von 1% und einer Schweizer Bevölkerungszahl von 8.5 Millionen, bedeutet dies eine DIS-Population von umgerechnet 85'000 Personen. Wenden wir die Prozentzahl 3% für Strafanzeigen (Webermann et al., 2017) auf die Schweizer DIS-Population an, wären das gerade einmal 2550 Personen mit einer Strafanzeige. Gerechnet mit den Werten (0.6% für Inhaftierung) von Webermann wären 51-DIS-Betroffene im Jahr 2022 in Haft. Das macht einen Anteil von 0.8% an allen Gefangenen der Schweiz. Somit ist es sogar seltener, dass ein:e DIS-Patient:in im Gefängnis sitzt, als von der Bevölkerungszahl mit DIS (1%) zu erwarten wäre. Wäre die Stichprobe der Gefägnisinsassen repräsentativ für die Schweizer Bevölkerung, müsste der Anteil DIS-Betroffene an den Inhaftierten 1% sein.

Wie ist das einzuordnen? Die neueren Studien zeigen, dass DIS-Betroffene nur selten in Kontakt mit der Justiz geraten, und wenn doch, geschieht dies hauptsächlich auf Grund von kleineren Vergehen, was durchaus mit der Allgemeinbevölkerung vergleichbar ist. Die Resultate von Webermann et al. (2017) kontrastieren die Ergebnisse früherer Studien und relativieren die lang angenommene Gewaltbereitschaft von DIS-Betroffenen. Jedoch muss beim Vergleich solcher Ergebnisse auch in Betracht gezogen werden, dass sich wissenschaftliche und diagnostische Methoden in einem stetigen Wandel befinden. So kann die Weiterentwicklung von Diagnosekriterien zu Veränderungen in den Stichproben führen, sodass sich diese der Allgemeinbevölkerung annähert (z.B. indem Expert:innen sensibilisiert werden, eine Diagnose häufiger gestellt wird, eine grössere und breitere Stichprobe zur Verfügung steht, welche eine breitere und diversere Gruppe von Menschen abdeckt). Des weiteren kann auch die Erweiterung von Bewertungstechniken dazu führen, dass fortlaufend differenziertere Aussagen getroffen werden können. Diesbezüglich legen die Untersuchungen von Webermann et al. (2017) nahe, dass sich die scheinbare Gewaltbereitschaft von DIS-Patient:innen vorwiegend gegen sich selbst richtet und nicht explizit mit einer höheren Kriminalitätsrate in Verbindung steht. Individuen mit DIS scheinen eine größere Bedrohung für sich selbst als für andere darzustellen, was sich in sehr hohen Raten von selbstverletzendem Verhalten und häufigen Selbstmordversuchen zeigt. (Brand et al., 2009; Brand et al., 2013; 49]. Fazit: Vorurteile über die Gefährlichkeit von DIS-Patient:innen sind veraltet. Neuere Studien sprechen da eine eindeutig andere Sprache.
Referenzen
Brand, B., Classen, C., Lanins, R., Loewenstein, R., McNary, S., Pain, C., & Putnam, F. (2009). A naturalistic study of dissociative identity disorder and dissociative disorder not otherwise specified patients treated by community clinicians. Psychological Trauma: Theory, Research, Practice, and Policy, 1(2), 153.
Brand, B. L., McNary, S. W., Myrick, A. C., Classen, C. C., Lanius, R., Loewenstein, R. J., ... & Putnam, F. W. (2013). A longitudinal naturalistic study of patients with dissociative disorders treated by community clinicians. Psychological Trauma: Theory, Research, Practice, and Policy, 5(4), 301.
Dell, P. F., & Eisenhower, J. W. (1990). Adolescent multiple personality disorder: A preliminary study of eleven cases. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, 29(3), 359-366. Kaplan, M. L., Erensaft, M., Sanderson, W. C., Wetzler, S., Foote, B., & Asnis, G. M. (1998). Dissociative symptomatology and aggressive behavior. Comprehensive psychiatry, 39(5), 271-276.
Kluft, R. P. (1987). The parental fitness of mothers with multiple personality disorder: A preliminary study. Child abuse & neglect, 11(2), 273-280. Loewenstein, R. J., & Putnam, F. W. (1990). The clinical phenomenology of males with MPD: A report of 21 cases. Dissociation: Progress in the Dissociative Disorders. Putnam, F. W., Guroff, J. J., Silberman, E. K., Barban, L., & Post, R. M. (1986). The clinical phenomenology of multiple personality disorder: review of 100 recent cases. The Journal of clinical psychiatry. Quimby, L. G., & Putnam, F. W. (1991). Dissociative symptoms and aggression in a state mental hospital. Dissociation: Progress in the Dissociative Disorders. Ross, C. A., & Norton, G. R. (1989). Differences between men and women with multiple personality disorder. Psychiatric Services, 40(2), 186-188. Webermann, A.R., Brand, B.L. Mental illness and violent behavior: the role of dissociation. bord personal disord emot dysregul4, 2 (2017). https://doi.org/10.1186/s40479-017-0053-9
Webermann AR, Brand BL. The sitting duck syndrome: What contributes to dissociative patients’being victims and perpetrators of violence? Symposium to be presented to the 33rd Annual International Society for the Study of Trauma and Dissociation (ISSTD) Conference. 2016
Webermann, A. R., Myrick, A. C., Taylor, C. L., Chasson, G. S., & Brand, B. L. (2016). Dissociative, depressive, and PTSD symptom severity as correlates of nonsuicidal self-injury and suicidality in dissociative disorder patients. Journal of Trauma & Dissociation, 17(1), 67-80.
https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kriminalitaet-strafrecht/justizvollzug/inhaftierte-erwachsene.html (Letzter Aufruf: 23.11.22)