Transkulturelle Psychiatrie – oder: Über die Problematik des kulturabhängigen Diagnostizierens
Anknüpfend an das Thema des Beitrags vom 19.02.2023 «Geflüchtete Kinder und Jugendliche im kulturellen Spannungsfeld» (https://www.netzwerktrauma.ch/post/gefl%C3%BCchtete-kinder-und-jugendliche-im-kulturellen-spannungsfeld) beschäftigt sich der als kleiner Exkurs gedachte vorliegende Beitrag in einem ersten Schritt damit, was transkulturelle Psychiatrie ist. Anschliessend werden ein paar ausgewählte psychische Störungen auf ihre Unterschiedlichkeit bezüglich der kulturellen Ausprägung hin beleuchtet und schliesslich ein kurzes Fazit gezogen.
Transkulturelle Psychiatrie
«Transkulturelle Psychiatrie – meint einen Zweig der Psychiatrie, der sich mit den kulturellen Aspekten der Ätiologie [Ursachen], der Häufigkeit und Art sowie der Behandlung psychischer Erkrankungen befasst.» (Bermejo et al., 2017, S. 606)
Nach Machleidt und Graef-Callies (2016) erleben Menschen ihr eigenen Werte und Normen als «normal» und selbstverständlich. Auch ihre Identität baut mit darauf auf. Die verinnerlichten Normen und Werte beeinflussen deshalb ebenfalls unsere Beurteilungen und Interpretationen von Wahrnehmungen und Alltagssituationen.
Im Migrationskontext treffen hierzulande (zumeist) Fachpersonen aus dem europäischen Kulturkreis auf Klient*innen aus anderen kulturellen Kreisen. Somit treffen verschiedene Werte- und Normvorstellungen aufeinander (Bermejo et al., 2017). Wie dann die Beschreibung eines Symptoms oder das Verhalten einer Person interpretiert wird, ist abhängig davon, welche Normen und Werte bei der Betrachtung internalisiert sind und können so die Diagnosestellung beeinflussen.
Beispiele für kulturelle Unterschiede bei psychischen Erkrankungen
Im Folgenden werden einige spezifische Krankheitsbilder aufgelistet, wobei die Liste nicht als abschliessend zu betrachten ist. Sie soll lediglich dazu dienen, einen Einblick in die vielfältigen Unterschiede in der Symptomatik von psychischen Störungen zu ermöglichen.
Abhängigkeitserkrankungen
Ein bekanntes Beispiel für die Unterschiedliche Wahrnehmung von Verhalten zeigt sich im Alkoholkonsum. Während in gewissen Kulturen / Ländern der Alkoholkonsum zum Alltag gehört (z.B. ein Glas Wein zu jeder Mahlzeit), ist der Alkoholkonsum in anderen Ländern gänzlich verboten (z.B. Saudi-Arabien). Somit ist der Alkoholkonsum bezüglich der Menge und auch des Konsummusters sehr stark kulturell geprägt und die Grenze zwischen akzeptiertem und grenzüberschreitendem Alkoholkonsum oftmals fliessend. Dies kann einen Missbrauch und die Entstehung einer Alkoholanhängigkeit begünstigen. Einsamkeit und sozialer Ausschluss können wichtige Faktoren für die Entstehung und Aufrechterhaltung einer Abhängigkeit sein (Machleidt & Graef-Callies, 2016). Beides kann im Zusammenhang mit Migration eine grosse Rolle spielen.
Affektive Störungen (z.B. Depression)
Die Symptome (z.B. depressive Stimmungslage, Antriebslosigkeit) kommen in allen Kulturen und Ländern in etwa der gleichen Häufigkeit vor. Kulturelle Unterschiede bestehen im individuellen Erleben der Symptome und im Umgang damit. Ein Grund für diese unterschiedlichen Ausdrucksformen der Symptome kann in der normabhängigen Interpretation davon liegen. Das heisst, dass gewisse Symptome in Abhängigkeit davon, was in einem Land als «normal» gilt, anders oder nicht gezeigt werden (Machleidt & Graef-Callies, 2016).
Bermejo et al. (2017) beschreiben, dass eine depressive Stimmungslage, Antriebslosigkeit und Selbstwertverminderung weltweit in ähnlicher Form auftreten. Somatisierungen (= körperliche Beschwerden wie z.B. Herzrasen und Kopfschmerzen, welche jedoch keine körperlichen Unrsachen haben) treten in südeuropäisch-afrikanischen Ländern häufig auf, Schuldgefühle, Wertlosigkeit und Suizidalität v.a. in asiatischen Ländern.
Psychotische Störungen
In diesem Bereich ist die forschungsbasierte Befundlage sehr unterschiedlich. Was jedoch gesagt werden kann, ist, dass die psychotischen Symptome wie Halluzinationen und Denkstörungen zwar in allen Kulturen auftreten, die Bewertung davon jedoch schwierig sein kann. Bermejo et al. (2017) beschreiben dies folgendermassen:
«So muss beispielsweise bei der Beurteilung paranoider Gedanken bei Personen mit Migrationshintergrund immer auch ein möglicher realer Grund bedacht werden. Und auch ein Beeinflussungserleben durch böse Mächte bei südeuropäischen und afroasiatischen Kulturen oder das häufigere Auftreten kombinierter optisch-akustischer Halluzinationen im Rahmen psychotischer Erkrankungen in Afrika, Indien und Indonesien muss anders als in Zentraleuropa üblich interpretiert werden.» (S. 610)
Angststörungen
Angststörungen sind im Zusammenhang mit Migration und Flucht ein sehr häufig auftretendes Krankheitsbild. Die Symptome der Angst zeigen sich auf gedanklicher Ebene, auf Ebene der Gefühle, des Körpers und des Verhaltens. Daher ist es nachvollziehbar, dass die Angstsymptome in unterschiedlichen Kulturen sehr verschieden wahrgenommen werden und dies auch zu Schwierigkeiten im Erkennen und Behandeln der Störung führen kann (Machleidt & Graef-Callies, 2016). In gewissen Teilen Afrikas zum Beispiel wird die Angst körperlich als ein Insekt oder Parasit erlebt, welche durch den Körper kriecht (Ode Ori). In anderen Regionen wird eher ein Hitzegefühl im Kopf bemerkt und in Indien berichten die Menschen oft von der Befürchtung, dass sie einen Samenverlust im Urin erleben (Agorastos & Ströhle, 2011). Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass im Angstzustand Gedanken vorhanden sein können, welche einen wahnhaften Charakter aufweisen (daher Fehldiagnose psychotische Störung). Jedoch ist dies in vielen Kulturen Ausdruck für die Ängste und sollte daher klar untersucht und unterschieden werden (Machleidt & Graef-Callies, 2016).
Susto
Susto beudetet "Schreck" und und bedeutet in Lateinamerika eine Volkskrankheit. Betroffene sehen den Ursprung dieser Krankheit in einem starken, erschreckenden Erlebnis, welches aktuell vorliegen kann oder in der Vergangenheit stattgefunden hat (Machleidt & Graef-Callies, 2016). Typische Symptome umfassen ein Schwächegefühl, Schlafstörungen, Albträume, Motivationslosigkeit und ein geringes Selbstwertgefühl u.a. Machleidt und Graef-Callies (2016) führen unter Anderem an, dass die Symptome von Susto stark mit den Diagnosekriterien (ICD-10) der posttraumatischen Belastungsstörung übereinstimmen.
Weitere, in Zusammenhang mit Migration und v.a. Flucht wichtige Störungen sind die Anpassungsstörungen und die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), auf welche bereits in vorhergehenden Artikeln eingegangen wurde (z.B. https://www.netzwerktrauma.ch/post/traumafolgest%C3%B6rungen-3-zentrale-differentialdiagnosen).
Aus dieser nicht abschliessenden Aufzählung von kulturellen Aspekten bei psychischen Erkrankungen wird ersichtlich, dass das Stellen der passenden Diagnose sehr anspruchsvoll sein kann. Es bedarf eines genauen Wissens einerseits über die geltenden Symptome, aber eben auch des kulturellen Wissens, damit Fehlinterpretationen und -diagnosen vermieden und die Betroffenen adäquat behandelt werden können. Und wie schon im Artikel «Geflüchtete Kinder und Jugendliche im kulturellen Spannungsfeld» (Link weiter oben) erläutert, bedarf es auch bei der Behandlung eine kulturelle Anpassung, damit diese nachhaltig helfen kann.
Quellen
Agorastos, A. & Ströhle, A. (2011). Angststörungen. In W. Machleidt & A. Heinz (Hrsg.), Praxis der interkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie (S. 293-306). Berlin: Urban & Fischer Elsevier.
Bermejo, I., Hölzel, L. P. & Schneider, F. (2017).Transkulturelle Psychiatrie. In F. Schneider (Hrsg.), Facharztwissen Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (S. 605-615). Berlin: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-50345-4
Machleidt, W. & Graef-Calliess, I. T. (2016). Transkulturelle Aspekte psychischer Erkrankungen. Verfügbar unter https://www.springermedizin.de/emedpedia/psychiatrie-psychosomatik-psychotherapie/transkulturelle-aspekte-psychischer-erkrankungen?epediaDoi=10.1007%2F978-3-642-45028-0_17
Quelle Bild: https:// pixabay.com/de/photos/ozean-meer-wellen-sonnenaufgang-1867285