Traumafolgestörungen: 3 zentrale Differentialdiagnosen
Traumafolgestörungen sind so vielfältig wie ihre Ursachen. Sei es physischer, sexueller oder emotionaler Missbrauch oder auch traumatische externe Ereignisse (z.B. Krieg, Todesfall), die potenziellen Folgen sind beträchtlich: Persönlichkeitsstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, strukturelle Dissoziation oder sonstige dissoziative Phänomene. In der Folge werde ich auf drei unterschiedliche Traumafolgestörungen eingehen, die zwar auf den ersten Blick viele Gemeinsamkeiten aufweisen, sich aber bei näherer Betrachtung in bestimmten Merkmalen unterscheiden. Die Rede ist von der Persönlichkeitsstörung mit Borderline-Muster ("Borderline-Persönlichkeitsstörung"), der dissoziativen Identitätsstörung (DIS; Syn: multiple Persönlichkeitsstörung) und der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (kPTBS).
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) ist „eine psychische Störung, die sich auf die Art und Weise auswirkt, wie man über sich selbst und andere denkt und fühlt, was zu Problemen im Alltagsleben führt. Dazu gehören Probleme mit dem Selbstbild (Instabilität des Selbstbildes), Schwierigkeiten bei der Steuerung von Emotionen und Verhalten (Affektinstabilität) und ein Muster instabiler Beziehungen.“ (Quelle: Mayo Clinic; Jan Gysi in „Diagnostik von Traumafolgestörungen“) Sie ist (oft, aber nicht zwingend!) durch Selbstverletzung, starke Stimmungsschwankungen und extremes Schwarz-Weiß-Denken gekennzeichnet. Häufig beruht diese Störung auf einem oder mehreren traumatischen Erlebnissen, was aber "nur" bei 80 % der Patienten der Fall ist. (Sack et al. 2013) BPS-Patienten können weitere Symptome wie dissoziative Episoden aufweisen, die sich z. B. durch einen Tunnelblick und unbewusste Selbstverletzungen äußern. Auch Komorbiditäten wie Essstörungen, Depressionen oder Angststörungen sind nicht selten.
Am charakteristischsten für BPS ist jedoch wohl, dass die Patienten Schwierigkeiten haben, Beziehungen zu führen oder stetig eine Ausbildung zu absolvieren – oft wechseln sie regelmäßig ihren Ausbildungsplatz. Bis heute ist die BPS ein weithin stigmatisiertes Etikett, das sich hartnäckig hält. In den letzten Jahren wurden in der Therapie große Fortschritte erzielt. Eine zentrale Rolle spielt insbesondere die bereits in den 1980er Jahren entwickelte Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT; nach Linehan). Die Patienten lernen, verschiedene sogenannte „Skills“ anzuwenden (z.B. Liegestütze, Gewürzlutscher) und Achtsamkeit zu üben (z.B. mit progressiver Muskelentspannung oder Bodyscan in der Gegenwart zu bleiben). Skills sind Aktivitäten/Handlungen/Gedanken, die die Patienten aus ihren Spannungszuständen herausführen und so extreme Emotionen kontrollierbar machen. Darüber hinaus ermöglicht die DBT den Patienten, sich mit ihren vergangenen traumatischen Erfahrungen, sowie mit dem, was in der Gegenwart geschieht, auseinanderzusetzen (daher dialektisch).
Anmerkungen in der diagnostischen Bibel International Classification of Diseases (ICD-11):
In ICD-11 wird die BPS als Persönlichkeitsstörung mit „Borderline“-Muster definiert „Borderline“-Muster: Trauma-Erfahrung nicht zwingend, keine Trauma-Trias (Intrusionen, Hyperarousal und posttraumatisches Vermeidungsverhalten), Verlassenheitsangst, Idealisierung von Beziehungen, Suizidalität, veränderte Selbsteinschätzung

Die dissoziativen Identitätsstörung (DIS), ist die extremste Form der strukturellen Dissoziation und wird gemäss der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) definiert als „eine Störung, die durch das Vorhandensein von zwei oder mehr Identitäten mit unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Persönlichkeitsmustern gekennzeichnet ist, die wiederholt die Kontrolle über das Verhalten der Person übernehmen; dies geht mit einer retrospektiven Lücke in der Erinnerung an wichtige persönliche Informationen einher, die weit über die normale Vergesslichkeit hinausgeht.“ (Anmerkung: Die Definition ist in der ICD-11 spezifischer). Unter Dissoziation versteht man dabei die Aufspaltung der Persönlichkeit in verschiedene Persönlichkeitsanteile (=Schutzmechanismus, verursacht durch extreme traumatische Ereignisse), die jeweils ihr eigenes Denken, Fühlen und Handeln haben. Weitere Merkmale sind akustische Halluzinationen (dissoziative Stimmen der anderen Persönlichkeitsanteile), Flashbacks oder andere tranceartige Verhaltensweisen. Ähnlich (aber diesmal zwingend) wie bei der BPS beruht die DIS auf wiederholten traumatischen Erfahrungen seit der frühen Kindheit. Bislang gibt es kein Medikament, das Heilung verspricht. Zentral in der Therapie der DIS bleibt die Psychotherapie (und hier insbesondere die traumaspezifische Ego-State-Therapie, mehr dazu in anderen Beiträgen). Ihr Ziel ist es, die verschiedenen Persönlichkeitsanteile zu einem Team zu formen oder zumindest deren Ko-Existenz zu ermöglichen (Gysi, 2021).
Die dritte psychische Erkrankung, die ebenfalls zu den komplexen Traumafolgestörungen gehört, ist die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS). Neben den für die PTBS typischen Symptomen wie Flashbacks, Vermeidungsverhalten und Hypervigilanz (d.h. erhöhte Wachsamkeit etc.) ist die kPTSD gekennzeichnet durch Veränderungen im emotionalen Verhalten und Erleben (Affektdysregulation) sowie ein gestörtes Selbstkonzept, das Gefühl, anderen unterlegen zu sein oder die Unfähigkeit, enge Beziehungen einzugehen. Die zugrundeliegenden traumatischen Erfahrungen sind in der Regel langwierige oder wiederholte Ereignisse, denen man nur schwer oder gar nicht entkommen konnte. Dies ist einer der Hauptunterschiede zur „klassischen“ PTBS, bei der meist ein einzelnes Ereignis ursächlich ist.
Anmerkungen gemäss ICD-11: (Maercker et al. 2022)
Die kPTBS verlangt nach einem traumatischen Stressor und nach mind. je einem Symptom der sechs Symptomcluster: 1) Wiedererleben von traumatischen Erinnerungen, 2) Vermeidungsverhalten, 3) Gefühl des Bedrohtseins, 4) Emotionsdysregulation, 5) negatives Selbst-Konzept und 6) Schwierigkeiten in der Bildung oder Aufrechterhaltung von zwischenmenschlichen Beziehungen
Zur Veranschaulichung der Hauptmerkmale der einzelnen Diagnosen dient die folgende Tabelle:

Ihr merkt schon – der Diagnoseprozess ist gar nicht so einfach! Es gibt viele Überschneidungen und meist tritt ein Symptom bei allen 3 Krankheiten auf. Was eine Unterscheidung zwischen ihnen ermöglicht, ist normalerweise das Ausmaß, in dem die Symptome auftreten. So stehen bei der BPS die mangelnde Emotionskontrolle, Impulsivität oder die Unfähigkeit, Beziehungen einzugehen, im Vordergrund, während bei der DIS Stimmenhören, Gedächtnislücken und unterschiedliche Persönlichkeitsanteile (mit unterschiedlichen Verhaltensweisen, Emotionen usw.) im Mittelpunkt stehen. Die kPTBS wiederum äußert sich in erster Linie durch das Vorhandensein klassischer PTBS-Symptome (Flashbacks, Vermeidungsverhalten, Hyperarousal usw.), hat aber einen breiteren Fokus auf das Beziehungsverhalten des Patienten. Die Unterscheidung zwischen diesen drei Krankheitsbildern ist wichtig, weil das therapeutische Management (ambulant, stationär) unterschiedlich ist. Während sich bei der BPS die DBT-Therapie durchgesetzt hat, steht bei der DIS und der kPTBS die traumafokussierte Therapie im Vordergrund. Allen gemeinsam ist, dass die medikamentöse Therapie nur bedingt Linderung bringt. Für weitere Informationen und Details empfehle ich Jan Gysi's Werk "Diagnostik von Traumafolgestörungen - Multiaxiales Trauma-Dissoziationsmodell nach ICD-11", das mir auch bei den Recherchen als Grundlage diente.
Ich hoffe, einen groben Überblick über drei wichtige Traumafolgestörungen und ihre Abgrenzung geliefert zu haben. Wie in der Medizin üblich, sind psychiatrische Diagnosen keine starren Konstrukte, sondern unterliegen einer gewissen Dynamik. Weitere Forschung auf der Basis vom neuen ICD-11-System ist deshalb notwendig, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu verfeinern.