Wie die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung in die ICD-11 aufgenommen wurde
Mit der Einführung der ICD-11 am 01.01.2022 veränderte sich am vorherrschenden Diagnosesystem einiges. Neue Diagnosen wurden eingeführt, andere wurden umbenannt oder gestrichen. Eine dieser Neuerungen betrifft die Kategorie der trauma- und belastungsbezogenen Diagnosen. Diese beinhaltet unter anderen die klassische Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und die neu in den Diagnosekatalog aufgenommene komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS; Maercker & Eberle, 2022).
Im folgenden Beitrag soll in einem ersten Teil auf die Gründe für die Erneuerung der ICD eingegangen, danach kurz erläutert werden, wie die kPTBS in die ICD-11 aufgenommen wurde und zuletzt die Unterschiede zwischen den "alten" Diagnsebezeichnungen in der ICD-10 und den "neuen" in der ICD-11 aufgezeigt werden. In diesem Beitrag wird nur auf die ICD-11 eingegangen.
Was ist die ICD? Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben. «Sie enthält Kategorien für Krankheiten, gesundheitsbezogene Zuständen und äussere Ursachen von Krankheit oder Tod» (Jakob, 2018). Das heisst also, dass alle bekannten und wissenschaftlich belegten Krankheits- und Todesursachen in der ICD beschrieben sind und somit möglichst einheitlich angwandt werden können. Nebst körperlichen Diagnosen gibt es auch ein Kapitel, das die psychischen Störungen umfasst (Jakob, 2018).
Gründe für die Erneuerung der ICD
Die vorhergegangene Version der ICD-11 – die ICD-10 – wurde 1995 publiziert. In der Zwischenzeit machte die Forschung grosse Fortschritte und so erstaunt es nicht, dass einige Beschreibungen oder Kategorien in der ICD-10 nicht mehr ganz den aktuellen Gegebenheiten entsprachen. Jakob (2018) beschreibt, dass es in der ICD-10 sowohl aus inhaltlicher wie auch aus technischer Sicht Unangepasstheiten gab. Die ICD-10 existierte in Buchform, was die Anpassung an neue Erkenntnisse aus der Forschung in Bezug auf die Diagnosen sehr schwerfällig machte. Die ICD-11 existiert nur online und ermöglicht so das schnelle Aufnehmen von neuen Forschungsergebnissen. Zudem ist es auch anwendungsfreundlicher, da nicht von Seite zu Seite gesprungen werden muss. Bei der inhaltlichen Überarbeitung der ICD-10 wurden in einem ersten Schritt die beteiligten Berufsgruppen wie Psycholog*innen und Ärzt*innen u.a. dazu befragt, welche Diagnosen in der ICD-10 ihrer Meinung nach fehlen würden (Robles et al., 2014). Die Resultate dieser Befragung flossen dann in die neue Gestaltung der ICD-11 mit ein. Nach diversen weiteren Studien und Überprüfungsvorgängen wurde die ICD-11 dann im Mai 2019 an der WHO-Jahresversammlung mit dem Ziel der Einführung ab dem 1. Januar 2022 verabschiedet.
Wie die kPTBS ihren Weg in die ICD-11 fand
Wie im obigen Abschnitt erwähnt, wurden für die inhaltliche Überarbeitung der ICD-10 zwei grossen, internationalen Befragungen dazu gemacht, welche Diagnosen gemäss der Erfahrung von Fachpersonen in der ICD bisher fehlen würden (Robles et al., 2014). Wie die Autor*innen weiter schreiben, war ein Resultat dieser Befragungen, dass die Fachpersonen sich im Bereich der trauma- und belastungsbezogenen Störungen neue Diagnosen wünschen, welche die komplexen Traumafolgen vertiefen. Zudem zeigten Studien der PTBS-Forschung, dass die Kriterien der klassischen PTBS teilweise nicht ausreichten, um alle Erscheinungsformen von Traumatisierung abzubilden (dies v.a. auch bezogen auf wiederholte Traumatisierungen / Typ-II-Traumata). Aus diesen Forschungsergebnissen und den Befragungsresultaten wurde dann die Diagnose der komplexen PTBS abgeleitet (Eilers & Rosners, 2022).
ICD-10 | ICD-11 |
Anhaltende Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung PTBS | kPTBS PTBS |
Bereits unter der ICD-10 war es möglich, eine klassische PTBS zu diagnostizieren. Die als tiefgreifender in das Erleben und Verhalten Betroffener eingreifende Diagnose der Anhaltenden Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung existierte zwar, wurde jedoch kaum benutzt (Maercker et al., 2013). In der ICD-11 wird sie als kPTBS und mit anderer Beschreibung der Symptome wieder aufgenommen (siehe obige Tabelle zur Übersicht). In den untenstehenden Tabellenteilen (die als eine zusammenhängende Tabelle zu betrachten sind) sind die unterschiedlichen Diagnosebezeichnungen und -beschreibungen von der ICD-10 und der ICD-11 einander gegenübergestellt.


Ein grosser Unterschied in der Beschreibung der PTBS in der ICD-10 und in der ICD-11 besteht darin, dass die Kriterien für die Diagnose in der ICD-11 vereinfacht beschrieben wurden. Es sind pro Tabellenfenster jeweils zwei Symptome aufgeführt, was einer vereinfachten Übersicht beiträgt (Eilers & Rosner, 2021). Ausserdem wurden Symptome, die auch bei anderen Diagnosen eine grosse Rolle spielen, gestrichen (z.B. Schlafprobleme und Konzentrationsschwierigkeiten; Maercker et al., 2013).
Die Diagnose der kPTBS stellt sich aus den Symptomen der PTBS und die in der obigen Tabelle aufgelisteten zusätzlichen Kriterien zusammen (Schwierigkeiten in der Emotionsregulation, Verändertes Selbstbild, interpersonelle Schwierigkeiten). Einzelne Symptome dieser Bereiche waren breits in früheren Diagnosen (z.B. in der ICD-10) vorhanden, wurden in der neuen ICD-11 jedoch neu gebüdndelt und der kPTBS untergeordnet. Somit können andere Bereiche, welche durch eine PTBS nur unzureichend beschrieben werden konnten, eigenständig beschrieben und dementsprechend auch angegangen werden.
(Zu beachten gilt, dass die Ausführungen in diesem Beitrag nicht zur Selbstdianose geeignet sind. Für eine Diagnosestellung sollte immer eine Fachperson aufgesucht werden.)
Referenzen
Eilers, R. & Rosner, R. (2021). Die einfache und komplexe Posttraumatische Belastungsstörung in der Praxis: Eine Übersicht und Einordnung der neuen ICD-11 Kriterien in Bezug auf Kinder und Jugendliche. Kindheit und Entwicklung. 30 (3): 144-153. https://doi.org/10.1026/0942-5403/a000342
Jakob, R. (2018). ICD-11-Anpassung der ICD an das 21. Jahrhundert. Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz, 61(7), 771-777. https://doi.org/10.1007/s00103-018-2755-6
Maercker, A., Brewin, C. R., Bryant, R. A., Cloitre, M., van Ommeren,M., Jones, L. M. et al. (2013). Diagnosis and classification of disorders specifically associated with stress. Proposals for ICD-11. World Psychiatry, 12, 198–206. https://doi.org/10.1002/wps.2005
Maercker, A. & Eberle, D. J. (2022). Was bringt die ICD-11 im Bereich der trauma- und belastungsbezogenen Diagnosen? Verhaltenstherapie, 32, 62-71. https://doi.org/10.1159/000524958
Pro Psychotherapie e.V. (2022). F62.- Andauernde Persönlichkeitsänderungen. https://www.therapie.de/psyche/info/index/icd-10-diagnose/f6-persoenlichkeits-und-verhaltensstoerungen/f62-andauernde-persoenlichkeitsaenderungen-nicht-folge-einer-schaedigung-oder-krankheit-des-gehirns/
Robles, R., Fresán, A., Evans, S. C., Lovell, A. M., Medina-Mora, M. E., Maj, M., & Reed, G. M. (2014). Problematic, absent and stigmatizing diagnoses in current mental disorders classifications: Results from the WHO-WPA and WHO-IUPsyS Global Surveys. International Journal of Clinical and Health Psychology, 14(3), 165–177. https://doi.org/10.1016/j.ijchp.2014.03.003